Vor dem Start
1878/80 von Edgar Degas gemalt. 1941 dem jüdischen Sammler Paul Rosenberg gestohlen.
Das Bild Vor dem Start von Edgar Degas hat eine bewegte Geschichte. Es gehörte einst dem französisch-jüdischen Kunsthändler Paul Rosenberg, der ein wichtiger Galerist und Sammler in Paris war. Seine Sammlung von Impressionisten galt als eine der bedeutendsten ihrer Zeit.1 Nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Paris sah sich Rosenberg gezwungen, seine Galerie zu schliessen und aus dem Land zu fliehen. Wie zahllose weitere Werke wurde auch dieses Bild vom «Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg» konfisziert und im September 1941 an Hermann Göring persönlich übergeben. Wenige Monate später, im April 1942, tauschten es die Nazis beim Luzerner Galeristen Theodor Fischer gegen andere Werke ein, die ihrem Geschmack und Kunstideal mehr entsprachen. Durch diese Fügungen kam schliesslich Emil Bührle zum Zug, der im gleichen Monat zuschlagen und sich das Bild für seine eigene, rasch wachsende Sammlung sichern konnte.
Im Juni 1948 entschied das Bundesgericht im Rahmen der sogenannten Raubgut-Prozesse, dass Bührle dieses und weitere Werke an ihren rechtmässigen Besitzer Paul Rosenberg zurückgeben musste. Doch Bührle muss dieses Bild wohl ins Herz geschlossen haben: Ein Jahr später kaufte er es Rosenberg wieder ab. Seither ist das Bild ein nicht mehr wegzudenkender Teil der Sammlung Bührle in Zürich, die heute als «grösste Impressionistensammlung in Europa»2 angepriesen wird.
Den Weg, den dieses Werk zurückgelegt hat, erzählt das Kunsthaus als Geschichte eines grossen Sammlers mit einer noch grösseren Leidenschaft für Impressionisten. Diese Geschichte wurde durch ein schreckliches Unrecht begleitet, das jedoch durch die Raubgut-Prozesse gesühnt wurde. Ende gut, alles gut.
Weniger gut passt zu dieser Erzählung, wie Bührle sich mit Händen und Füssen gegen die Rückgabe seiner Raubkunst zur Wehr setzte: Der Waffenlieferant sagte vor Gericht mitunter aus, dass er selbst im Jahr 1942, als er das Werk vom Luzerner Galeristen Theodor Fischer kaufte, nichts von der Enteignung jüdischen Besitzes durch die Nazis gewusst habe.
«Bestimmte Gründe, Fragen zu stellen, hatte ich damals nicht. Allerdings hat mich überrascht, dass nun auf einmal Fischer eine Auswahl in seltener Fülle zu zeigen hatte. Fischer ist ein sehr bekannter Händler, und ich vermutete einfach, dass es ihm gelungen sei, eine günstige Erwerbsgelegenheit aufzuspüren, [...] Die Enteignung jüdischen Kunstbesitzes durch Deutsche in besetzten Ländern war noch keineswegs bekannt geworden. Mir persönlich war auch aus Deutschland kein einziger Fall dieser Art bekannt. Ich hörte wohl davon, dass irgendwelche Unternehmungen ‹arisiert› worden waren, aber nie von der Wegnahme von Bildern.»3
Durch seine vorgebliche Gutgläubigkeit und den Beschluss des Bundesgerichts, meinte sich Bührle also von jeglicher «historischen Last»4 befreit zu haben. Denn letztlich gab er das Werk an Rosenberg zurück und kaufte es ihm rechtsgültig wieder ab. Ende gut, alles gut?
Damit blendete bereits Emil Bührle selbst aus, dass seine Sammlungstätigkeit erst durch den Raubzug der Nationalsozialisten so richtig in Schwung kam. Und das Kunsthaus setzt diese Tradition der Verdrängung bis heute fort. Denn Fakt ist: Die Sammlung Bührle existiert in diesem Umfang nur aufgrund und als direkte Folge der Vernichtung des europäischen Judentums. Statt einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Entstehung der Sammlung, wird im Kunsthaus das Narrativ des gesühnten Unrechts, der abgeworfenen Last, vermittelt.
Die Vergangenheit lässt sich nicht einfach abschliessen, sondern wirkt in der Gegenwart fort. Darauf weist beispielsweise der Schweizer Historiker Erich Keller in seinem Buch Das kontaminierte Museum hin:
«Eine solche Sammlung liegt nicht irgendwo begraben, und kein Mensch weiss, wo. Im Gegenteil, sie steht im Rampenlicht und wird genutzt – so wie die Bührle-Sammlung mit ihrer ihr neu zugeschriebenen Aufgabe, Publikumsmagnet im Kunsthaus zu sein. Nicht trotz, sondern wegen ihrer komplexen Geschichte. Sie ist keineswegs passiv, kein Objekt, dessen Vergangenheit abschliessend untersucht worden ist und damit ad acta gelegt werden kann. Genauso wenig ist sie den Kräften des Markts entzogen, Kunst um der Kunst willen. Im Gegenteil, sie ‹strahlt›.»5