Das lesende Mädchen
1845/50 von Camille Corot gemalt. 1941 dem jüdischen Sammler Paul Rosenberg gestohlen.
Das lesende Mädchen von Camille Corot hat eine bewegte Geschichte. Es gehörte einst dem französisch-jüdischen Kunsthändler Paul Rosenberg, der ein wichtiger Galerist und Sammler in Paris war. Seine Sammlung von Impressionisten galt als eine der bedeutendsten ihrer Zeit.1 Nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Paris sah sich Rosenberg gezwungen, seine Galerie zu schliessen und aus dem Land zu fliehen. Wie zahllose weitere Werke wurde auch dieses Bild vom «Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg» konfisziert und im September 1941 an Hermann Göring persönlich übergeben. Wenige Monate später, im April 1942, tauschten es die Nazis beim Luzerner Galeristen Theodor Fischer gegen andere Werke ein, die ihrem Geschmack und Kunstideal mehr entsprachen. Durch diese Fügungen kam schliesslich Emil Bührle zum Zug, der im gleichen Monat zuschlagen und sich das Bild für seine eigene, rasch wachsende Sammlung sichern konnte.
Im Juni 1948 entschied das Bundesgericht im Rahmen der sogenannten Raubgut-Prozesse, dass Bührle dieses und weitere Werke an ihren rechtmässigen Besitzer Paul Rosenberg zurückgeben musste. Doch Bührle muss dieses Bild wohl ins Herz geschlossen haben: Vier Wochen später kaufte er es Rosenberg wieder ab.
Heute rühmt sich die Sammlung Bührle im hauseigenen Audioguide damit, Besitzerin von den «seltenen Figurenbildern»2 von Camille Corot zu sein. Das Audio endet auf der leichtfüssigen Schlussnote, dass dieses Bild eines von mehreren sei, die Bührle «zweimal erwarb». In dieser Formulierung steckt die gesamte historische Einordnung, zu der das Kunsthaus bereit ist. Geflissentlich wird damit übertüncht, was «erwerben» konkret bedeutete: Nutzniesser der Shoah und Abnehmer geraubten Besitzes zu sein. Damit war Bührle nicht nur Kunde, sondern diente sich auch als Komplize der Nationalsozialisten an.
Im Kunsthaus stützt man sich bis heute allerdings lieber auf die Version, dass Bührle von all dem nichts gewusst haben will. Beweis dafür scheint man in der damaligen Aussage Bührles vor Gericht zu finden. Selbst im Jahr 1942, als der Waffenlieferant das Werk vom Luzerner Galeristen Theodor Fischer kaufte, sei ihm die Enteignung jüdischen Besitzes durch die Nazis unbekannt gewesen.
«Bestimmte Gründe, Fragen zu stellen, hatte ich damals nicht. Allerdings hat mich überrascht, dass nun auf einmal Fischer eine Auswahl in seltener Fülle zu zeigen hatte. Fischer ist ein sehr bekannter Händler, und ich vermutete einfach, dass es ihm gelungen sei, eine günstige Erwerbsgelegenheit aufzuspüren, [...] Die Enteignung jüdischen Kunstbesitzes durch Deutsche in besetzten Ländern war noch keineswegs bekannt geworden. Mir persönlich war auch aus Deutschland kein einziger Fall dieser Art bekannt. Ich hörte wohl davon, dass irgendwelche Unternehmungen ‹arisiert› worden waren, aber nie von der Wegnahme von Bildern.»3